Es gibt so pseudo-intellektuelle Smalltalk-Plattitüden, die ständig wiederholt werden, obwohl sie völliger Blödsinn sind: z.B., daß vor paarhundert Jahren die Leute nur 40 Jahre alt geworden sind, daß die "Klein-Staaterei" Deutschlands Fluch gewesen sei, oder daß die "kopernikanische Wende" die Menschheit aus der überheblichen "Mitte des Universums" in eine "bescheidenere Rolle" am Rand gebracht habe...
Nun: 40 Jahre war mal die Durchschnitts-Lebens-Erwartung zu Zeiten hoher Kinder-Sterblichkeit - wer die ersten 2 oder 3 Jahre überlebt hatte, konnte gut 60 bis 80 Jahre alt werden (Kopernikus z.B. wurde 70 Jahre alt, ebenso Petrarca, Michelangelo 89, Luther "nur" 63, Voltaire und Newton 84, Louis XIV. 77)... Und daß "Klein-Staaterei" vielleicht sogar lohnender ist, zeigen nicht nur die Schweiz (bzw. deren teil-autonome Kantone) und Dänemark, sowie die Bevölkerungs-Kleinstaaten Norwegen, Island und Finnland (es geht ja nicht nur um "Territorium"), sondern auch die letzten "deutschen" Mini-Staaten Luxembourg und Liechtenstein, sowie San Marino, Malta, Monaco und Andorra (vom Vatikan und den weltweiten Ex-British-Empire-Steueroasen ganz zu schweigen), wogegen die "groß-staatliche" EU noch undemokratischer und unsozialer ist, als ihre Mitglieds-Staaten.
Und daß Kopernikus vor 500 Jahren entdeckte, daß nicht die Sonne, die Planeten und alle Sterne um die Erde kreisen, sondern sowohl die Erde, als auch die Planeten um die Sonne, hat die Menschheit eben nicht "bescheidener" gemacht - im Gegenteil.
Das mittelalterliche Bild von der Erde, über der sich der Himmel wölbt, an dem Mond und Gestirne kreisen, hat eben nicht bedeutet, daß der Mensch das "Zentrum" des Universums ist, selbst wenn die Erde eine Kugel ist, um die sich bei diesem Bild in himmlischen Sphären "alles dreht".*
Denn im europäisch-mediterranen Bereich, also in dem der monotheistischen "Welt"-Religionen, ist die "irdische Sphäre" die niederste und schlechteste: da gibt es Dunkelheit, Boshaftigkeit, Unterdrückung, Elend und Tod: das "irdische Jammertal", von dem uns Gott erlösen wird (ähnliches gibt es auch in ganz anderen Religionen). Psalm 90 der Luther-Bibel von 1545 sagt: "Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn´s hoch kommt, so sind´s 80 Jahre (vgl. oben zur Lebens-Erwartung), und wenn´s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen..."
Wie auf dem bekannten anonymen Holzstich der "Aufklärung", auf dem der Mensch den Kopf durch die "Atmosphäre" steckt, um die himmlischen Sphären zu sehen, folgte im vor-kopernikanischen Weltbild über dem chaotischen "Jammertal" der herrlich reine "Weltraum" der Planeten und Gestirne mit ihren perfekten Zyklen, und jenseits davon der göttliche "Himmel": das biblische "Paradies" mit ewigem Licht und Unsterblichkeit - der "zentrale" unterste Platz des irdischen Menschen in diesem Weltbild war also wahrlich kein Grund für irgendeine Überheblichkeit...
Die kopernikanische Erkenntnis hat nur den Glauben an die beruhigenden "besseren" Sphären, in die man nach dem Tod "aufzusteigen" hoffte, zerstört und den "Himmel" abstrakter und das "Paradies" ortloser (="utopischer") gemacht - und nicht zufällig lebte Kopernikus nicht nur im Zeitalter der ersten maritimen Entdeckungen (da Gama, Magellan, Kolumbus usw.), sondern auch im Zeitalter der "Reformation", die bekanntlich Gott aus dem Himmel in jede irdische Seele hinein holte und, im Gegensatz zur katholischen Begnadigung nach jeder Beichte, jeden zu seines jenseitigen Glückes eigenem Schmied machte, wobei die "Gottgefälligkeit" seines Lebens am irdischen "Erfolg" ablesbar war: ein religiöser Freibrief (Webers "protestantische Ethik") für Konkurrenz, Übervorteilung, Eroberung, Herrschaft, Ausbeutung usw., der bestens zur neuen Kredit-Wucher-Politik der Renaissance-Banken und zum (nach dem Römischen Reich wieder) aufkommenden Kapitalismus und Kolonialismus paßte.
Der ökonomische, technologische und wissenschaftliche "Fortschritt" ist nicht umsonst hauptsächlich das Werk kruder holländischer und schottischer Calvinisten, sowie von ein paar anglikanischen und deutsch-reformierten Evangelikalen (und deren Mischung ist der Bodensatz der heutigen US-Rednecks...)
Erst dadurch, also durch Kopernikus, wurde der Mensch mit seinem bis dahin "eitlen" (=vergeblichen) Streben im irdischen Jammertal zum Zentrum zumindest seines Universums, und die Erde von der "Mühe"-vollen Zwischenstation zum lohnenswerten Objekt (zum materiellen und humanen Rohstoff für Krämer-Seelen, den die Seefahrer suchten), an dem man zu Lebzeiten seine "Paradies"-Würdigkeit beweisen konnte, statt nur möglichst angenehm auf den erlösenden Tod zu warten: die Erde wurde zum Vorzimmer des "Paradieses" und bald zum eigentlichen Paradies zumindest für die "Erfolgreichen" - nach 500 Jahren noch sichtbar am modernisierten kapitalistischen Imperialismus und seinen Finanz-Magnaten, sowie am Sozial-Darwinismus US-amerikanischer Prägung.
Inzwischen arbeiten unbescheidene Genetiker und KI-Ingenieure daran, die göttliche Schöpfer-Rolle selbst zu übernehmen und auch das "Jenseits" und die "Unsterblichkeit" auf die Erde zu holen.
Vielleicht wären wir ohne Kopernikus besser dran gewesen...
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* eine andere falsche Plattitüde ist, daß bis zur "Aufklärung" alle aus "religiösen" Gründen die Erde für eine Scheibe hielten: abgesehen von den alten Griechen hielten aber auch mittelalterliche Kirchen-Gelehrte und Päpste sie schon für eine Kugel - trotzdem hat noch heute keiner (außer Buckminster Fuller) spontan das Gefühl, auf einer rotierenden Kugel zu stehen, aber den spontanen Eindruck, daß sich die Himmelskörper über seinem Standpunkt drehen: obwohl wir es seit der Grundschule wissen, drehen wir uns nicht von der Sonne weg, sondern "die Sonne geht unter"... Und was oder wem schadet´s?
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