Samstag, 17. Oktober 2020

Nachruf auf David Graeber (2)

(Aus D. Graeber: "Schulden", 2011, deutsche Ausg. 2014, S. 455f., 484f. :) 

"Die moderne Theorie von der endlosen Fortsetzung der Schulden", schrieb Thomas Jefferson (...), "hat die Erde mit Blut getränkt und ihren Bürgern ständig wachsende Lasten aufgebürdet."
Die meisten Philosophen der Aufklärung befürchteten noch Schlimmeres, (...) die anscheinend unvermeidliche Katastrophe (...). Viele hatten lange vor der Revolution Visionen vom Terror. (...) Vor allem teilten sie die nahezu universelle Annahme, der Kapitalismus werde nicht ewig Bestand haben, und glaubten, der Aufstand der Massen stehe unmittelbar bevor. Viele viktorianische Kapitalisten befürchteten tatsächlich, sie könnten jeden Augenblick an einem Baum aufgeknüpft werden.

(...) Sobald die Furcht vor einer nahen sozialen Revolution am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr angebracht schien, wurden wir mit dem Schreckgespenst der atomaren Vernichtung des Planeten konfrontiert. Als diese Bedrohung nicht mehr plausibel erschien, entdeckten wir die Erderwärmung. (Und den islamischen Terror und "Corona"... P.S.)
Ich will nicht behaupten, dass diese Gefahren nicht real waren oder sind. Aber es scheint mir bemerkenswert, dass der Kapitalismus stets das Bedürfnis verspürt, sich die Mittel für seine unmittelbar bevorstehende Zerstörung auszudenken oder sogar zu erzeugen.
(...) Vor 2009 begannen viele Leute zu glauben, der Kapitalismus werde tatsächlich ewig Bestand haben - zumindest konnte sich anscheinend niemand mehr eine Alternative vorstellen. Die unmittelbare Folge waren mehrere hemmungslose Spekulationswellen, die das ganze Gebilde zum Einsturz brachten.

(...) Aber auch diejenigen unter uns, die sich als "progressiv" bezeichnen, fürchten sich mehrheitlich vor der Aussicht auf ein Ende des Kapitalismus. Wir klammern uns an das Vorhandene, weil wir uns keine Alternative mehr vorstellen können, die nicht noch schlimmer wäre. 
Wie sind wir an diesen Punkt gelangt? Ich hege den Verdacht, daß wir es mit den letzten Auswirkungen der Militarisierung des amerikanischen Kapitalismus zu tun haben. In den letzten 30 Jahren ist ein Bürokratiemoloch entstanden, der Hoffnungslosigkeit erzeugt und aufrechterhält, eine übermächtige Maschinerie, deren Hauptzweck darin besteht, jede Hoffnung auf eine andere Zukunft zu zerstören. (...) Diesen Überwachungs- und Sicherheitsapparat zu erhalten scheint den Verfechtern des "freien Markts" sogar wichtiger zu sein als die Aufgabe, eine funktionsfähige Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten. (Vgl. die aktuelle "Corona-Krise"... P.S.)
(...) Ohne Zweifel überlastet dieser Apparat das kapitalistische System und erzeugt die Illusion einer unendlichen kapitalistischen Zukunft, eine kollektive Täuschung, die immer neue Spekulationsblasen hervorbringt. Das Finanzkapital beschränkt sich auf den Kauf und Verkauf von Stücken dieser Zukunft (...).
Das Einzige, was wir uns vorstellen können, ist die totale Katastrophe. (...) Aber eines steht außer Zweifel: die Geschichte ist nicht beendet, und zweifellos werden überraschende neue Ideen auftauchen. (...) Neue Lösungen können wir nur entwickeln, wenn wir viele gewohnte Denkkategorien über Bord werfen und neue einführen. Die meisten unserer überkommenen Vorstellungen sind mittlerweile ohnehin nutzloser Ballast, wenn nicht sogar feste Bestandteile des Apparats der Hoffnungslosigkeit.

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