Montag, 14. September 2020

Pseudo-"Öffentlichkeit" als Ende der "Demokratie"

Schon 1965 hat der notorisch kritische Psychologe A. Mitscherlich ("Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden") festgestellt, daß es eine "Öffentlichkeit" (damals zumindest der Privilegierten) im Sinn der antiken Polis oder der spät-mittelalterlichen "freien Stadtluft" schon längst nicht mehr gibt.
Dasselbe hatten in Frankreich der Regisseur Jaques Tati ("Mon Oncle", 1958, und "Playtime", 1967) und in den USA Jane Jacobs ("Tod und Leben großer amerikanischer Städte", 1961) bemerkt und wurde in Deutschland von O. Negt und A. Kluge ("Öffentlichkeit und Erfahrung", 1972) grundlegend analysiert.
Mitscherlich hatte (a.a.O.) schon die Gleichartigkeit kapitalistischer Nachkriegs-Unterhaltungs-Massen-Spektakel mit faschistischen Massen-Veranstaltungen erkannt und die angeblich "befreiende Anonymität" und den sakrosankten "Individualismus" in den Städten als unfreiwillige Einsamkeit und geplante Entsolidarisierung enttarnt.
Heutige Architektur und Städtebau fallen längst wieder hinter die seit den 60er-Jahren zaghaft angestoßenen Reform-Versuche zurück und zerstören nach und nach die mühsam erhaltenen oder neu aufgebauten öffentlichen Räume mit ihren Investoren-Konzepten: in Berlin z.B. ist sowohl die aufwendig restaurierte historistische "Narva-City" an der Oberbaum-Brücke ein totes Büro-Viertel, als auch das neue benachbarte Stahl-Beton-Hochhaus-Quartier um die (sic!) "Mercedes-Benz-Arena", und das gleiche gilt für jede quadratisch-praktische Baulücken-Schließung durch Immobilien-Haie: Rendite-Objekte, statt Lebenswelt, und neues krasses Beispiel ist das sterile und Depressionen erzeugende Wohnungs- und Büro-Großprojekt in der Heidestraße nördlich des Hauptbahnhofs...

Heute sitzt der Großteil der Menschheit zuhause, im Café oder in der U-Bahn, auf sein "Smart-Phone" glotzend und per "Social Media" oder "App" kommunizierend oder konsumierend, oder läuft, wie ein Irrer in sein "Head Set" labernd und gestikulierend, die Bürgersteige entlang (oder Mit-Passagiere nervend), und in stillen Stunden schreibt man unter Pseudonym folgenlose und grammatisch schlechte Kommentare in allen möglichen "Foren", bestenfalls beantwortet auf die gleiche Weise von unbekannten Dauer-Pseudonymen des jeweiligen "Forums"... Man bewirbt sich um "Jobs" per "Online-Formular" und erhält nie eine Antwort... 
Außer dem Späti-Bier und paar Tomaten kauft man alles "im Netz", läßt es bei arbeitslosen Nachbarn abgeben und schickt die Hälfte davon bedenkenlos per Mini-Lohn-Lieferfahrer zurück, wenn´s einem nicht gefällt, statt Waren in echt anzusehen und anzufassen und sich von Verkäufern beraten zu lassen, die demzufolge nur noch ahnungslose Regal-Einräumer sind... Man fragt niemanden mehr nach dem Weg, sondern blockiert den Weg, während man auf "Maps" rum-wischt... Man hat keine Photo-Alben mehr, sondern lädt tausende Bilder hoch in die Klaut... Man läßt sich orten, speichern, analysieren und mit "personalisierter" Werbung und ebensolchen "Nachrichten" zumüllen...
Und man hält die Vervollkommnung dieses anti-humanen technokratischen Systems auch noch gläubig für einen "Fortschritt"...

Die "Informations-Gesellschaft" ist ein schlechter Witz: daß man inzwischen jeden Scheiß gugln und jeden Scheiß twieten oder pousten kann, hat die allgemeine und vor allem die soziale Intelligenz verflacht, politische Zirkel zu virtuellen Stammtisch-Runden degradiert und kritisches Denken als "Verschwörungstheorie" diskreditiert. Wir sind nicht "informierter", sondern gleich-geschalteter und isolierter.

Demokratische Öffentlichkeit entsteht nicht in den "sozialen Medien" oder im Berliner Olympia-Stadion (egal ob Zigtausende bei einem Fußballspiel, bei Mario Barth, Barack Obama oder bei den Rolling Stones sind - diese "Events" sind eh nicht mehr unterscheidbar), sondern lokal auf der Straße und in den Kneipen und Hinterhöfen - und diese Demokratie wird systematisch untergraben durch die Zentralisierung, Kommerzialisierung, Touristifizierung, Gentrifizierung, Spaltung, Vereinzelung, Überwachung und Digitalisierung der Lebenswelt (die herrschende West-Propaganda behauptet das leider nur von "den Chinesen"...).

"Informationen" haben keinerlei Bedeutung mehr: man liest oder hört vom Abschmelzen der Polkappen und dem steigenden Meeresspiegel, von der national und international zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich, von ersaufenden Schlauchboot-Flüchtlingen und ("alle 5 Sekunden eins") verhungernden Kindern und genital-verstümmelten Frauen (in Mali oder Somalia 80-90%), vom weltweiten Artensterben und der absoluten Abnahme der "Wildtiere" (um 2 Drittel in den letzten 50 Jahren, vgl. z.B. https://www.tag24.de/thema/tiere/massives-tiersterben-wwf-veroeffentlicht... ), von riesigen Kinderschänder-Ringen, von zunehmender Polizei-Gewalt in den USA, in Weißrußland, auf den Philippinen, in Israel, Frankreich und natürlich Hongkong usw., von viel-hunderttausenden Toten in irgendwelchen Stellvertreter-Kriegen und durch deren Folgen oder ebenso vielen durch Luft-Verschmutzung, Verkehrs-Unfälle und Nahrungsgifte, usw. usf, - aber nichts folgt daraus, weil es keine lebendige Öffentlichkeit und damit keine demokratische Diskussion mehr gibt: der "befreite" Anonymos in den Metropolen steckt den Kopf in den Sand von Bali oder DomRep (während nebenan, in Haiti, die Leute krepieren...) und tanzt am liebsten auf dem Vulkan...
Man klammert sich an das untergehende System trotz sinkender Real-Löhne, steigender Mieten, weg-"rationalisierter" Arbeitsplätze, fortschreitender Umwelt- und Klima-Zerstörung und drohendem Platzen der Finanz-Blase... Es gibt keinen Generalstreik gegen die zunehmende Umverteilung von unten nach oben, oder gegen die geplante Erhöhung des Rüstungs-Etats, oder gegen die undemokratische EU-Bürokratie (ganz zu schweigen von den pseudo-"demokratischen" nationalen Apparaten und der allgemein neofeudalen Welt-"Politik"...) - die Menschen trotten als "schweigende Lämmer" (R. Mausfeld) in die "Schöne Neue Welt" (A. Huxley) eines R. Kurzweil ("Menschheit 2.0") und B. Gates: eine Sinn-entleerte "Matrix" auf stumpf-materialistischer Grundlage mit bloß "technischer Lizenz" (R. Buckminster-Fuller) des jeweils "Machbaren": das Menschheits-Experiment der herrschenden soziopathischen Finanz-Kaste, die Reichtum mit "Intelligenz" verwechselt, aber wie Pu Yi (Chinas "Letzter Kaiser", s. den Film von B. Bertolucci, 1987) eigentlich zu Straßenkehrern degradiert gehört... Endlich mal was Sinnvolles tun !

Es wird höchste Zeit zum Aufwachen und für einen "Roll-Back": Dezentralisierung, Entmonetarisierung, Rekommunalisierung, Naturalisierung, Individualisierung und Spiritualisierung. Der menschliche Geist ist mehr, als quantifizierbare Ausschüttung biochemischer Moleküle, und sollte eigentlich über die grassierende selbstzerstörerische Dummheit erhaben sein.


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