Mittwoch, 24. November 2021

Die Schäbigkeit der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates

In der beeindruckenden filmischen Collage Rückkehr nach Reims - Film in voller Länge | ARTE nach dem autobiographischen Buch von Didier Eribon über die Arbeiter-Klasse in Frankreich seit den   1950er-Jahren wird deprimierend klar, was für eine Sorte "Zivilisation" der Kapitalismus erzeugt hat: für die Masse der Menschen ein psychisch und körperlich krank machendes Leben von Eintönigkeit, Ausbeutung, Streß und Hoffnungslosigkeit, beginnend mit verordneter Bildungsferne und Chancen-Ungleichheit, über das notgedrungene Bestehen auf dem "Recht auf Arbeit" (vgl. dagegen P. Lafargue´s "Recht auf Faulheit" von 1880, und T. Hodgkinson´s neuere "Anleitung zum Müßiggang"), bis hin zum frühen Tod oder zur Alters-Armut... Schon in den 50er-Jahren haben sich nachdenkliche "Proleten" gefragt, welchen "Fortschritt" es im 20. Jahrhundert gegenüber dem grausligen "Manchester-Kapitalismus" des 19. Jahrhunderts oder der feudalistischen "Leibeigenschaft" der vorherigen Jahrhunderte gegeben haben sollte... Und tatsächlich sind die Doku-Schnipsel aus den 50er-Jahren so erschütternd und empörend, wie der Film "Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß" (S. Pollack, USA 1969) oder Steinbeck´s Roman "Früchte des Zorns" (1939) über die Folgen der "Wirtschafts-Krise" von 1929: Menschen leben trotz eines immensen gesellschaftlichen Produktivitäts-Zuwachses im Elend und machen alles für eine Handvoll Dollars...

Prinzipiell hat sich daran bis heute nichts geändert, auch wenn die Methoden subtiler geworden sind: in Mittel-Europa muß niemand mehr mit 14 in die Fabrik, sondern erst mit 18 in unbezahlte "Praktika" und dann zumeist bestenfalls in einen unterbezahlten Job, falls er nicht sowieso durch´s Raster gefallen ist (Harz4 und/oder Minijobs).
Fabrik-, Fließband- und Akkord-Jobs gibt´s fast nur noch in Ost-Asien, aber die hiesigen (zumeist in irgendeiner Form "Dienstleistungs-" oder Bildschirm-)Jobs sind genauso eintönig, frustrierend und verdummend, und dazu meist unsicher... Und 10 Millionen Deutsche arbeiten nach Angabe des möglichen zukünftigen Kanzlers für den unsäglichen "Mindestlohn".
"Bildung" ist nach wie vor (mit Unterbrechung durch die paar Nach-68er-Jahre) System-Propaganda, geheuchelte Aufrechterhaltung des puritanischen "Wirtschafts-Wunder"-Ethos und Konditionierung auf den individualistischen "Neoliberalismus" seit den 80er-Jahren - zynischerweise selbst für die bereits Abgehängten.

Seit der "Zähmung" oder Zerschlagung der ehemals linken Gewerkschaften nach dem Vorbild von Thatcher und Reagan und der endgültigen "Neoliberalisierung" aller ehemaligen sogenannten "Sozialisten" (Mitterand, Blair, Schröder, und jetzt auch noch die Skandinavier...) gibt es erst recht keine Hoffnung mehr für die "Arbeiter-Klasse", die man sowieso neu definieren müßte: neu dazu gehören die Arbeitslosen, die Asylanten, die chancenlosen (teils kriminellen) jungen Männer, die Obdachlosen, die "Generation Praktikum", die Niedriglohn- und Mini-Jobber und die Absteiger aus der sich auflösenden "Mittelschicht" - all diese haben kein gemeinsames Sprachrohr und lassen sich fahrlässigerweise auch noch spalten...

Der imperial-nationalistische Zentralismus (in Frankreich, England, Spanien usw. seit Jahrhunderten, in Deutschland und Italien seit 150 Jahren) hat von Anfang an "Demokratie" verhindert, und der finanz-kapitalistische Zentralismus der "Globalisierung" vollendet das weltweit: allerorten plutokratische Oligarchien nach dem Muster der USA oder "failed states" als Kriegs-Spiel-Zone (á la Orwell´s "1984") für die Rüstungs-Industrie...

Der nationale und transnationale Zentralismus der neofeudalen Klassen, der die Klassen-Gesellschaft sozial-darwinistisch leugnet und längst ex-linke Apparatschiks (wie in Deutschland die "Realos" der Ex-"Grünen" und die "Pragmatiker" der Ex-"Linken") absorbiert hat, treibt wohl, wie Eribon zu recht vermutet, die ehemalige "Arbeiterklasse" Europas in die Arme rechter national-pseudo-"sozialistischer" Parteien: vielleicht ist das sogar gewollt, um die "Dummheit der Masse" an den Pranger zu stellen und die Herrschaft der "aufgeklärten" Plutokratie als "good governance" zu rechtfertigen, die das, was volkt, vor seiner eigenen (anerzogenen) gefährlichen Blödheit schützt - und zugleich das etablierte Profit-System vor "sozial-neidischen" Anwürfen...

Nach Jahrhunderten erzwungener Bildungsferne und Indoktrinierung reicht offenbar der "gesunde Menschen-Verstand" nicht mehr aus, um die Verhältnisse vernünftig zu regeln (wie alle mißlungenen oder entarteten Revolutionen in der bisherigen Geschichte zeigen), aber er ist trotzdem nicht tot zu kriegen (wie tausende lokale Beispiele von Humanismus und Solidarität zeigen) und bleibt die einzige Hoffnung auf einen dezentralen Wandel zum Besseren: die zentralen Institutionen und ihre Pseudo-Proklamationen (wie UN-"Klima-Gipfel", EU-"Agrar-Reform" usw.) kann jedenfalls kein denkender Mensch mehr ernst nehmen.

Übrigens liegt auch die oft inhumane moralische Intoleranz des "ungebildeten" Individuums nicht unbedingt an seiner stupiden und heidnischen "Provinzialität", sondern eher an der christlichen und zentral-staatlichen Indoktrination: der Aufstand in der berühmten Vendée und in der Bretagne gegen die nach Gutdünken guillotinierende "Französische Revolution" war wohl weniger "royalistisch", als vielmehr zu recht anti-zentralistisch... So mancher deutsche "Reichsbürger" ist dem entsprechend wahrscheinlich eher Anarchist.

Kurz: das Leben der Mehrheit der Menschen ist im Kapitalismus zu einem Ameisen-Dasein geschrumpft (womit nicht die bewundernswerten Ameisen beleidigt werden sollen: vgl. M. Maeterlinck´s "Leben der Ameisen"), und die Menschen akzeptieren die ihnen zugewiesenen Rollen nicht anders, als die fiktiven Mitglieder des Rougon-Macquart-Clans vor 100 Jahren im Roman-Zyklus von Zola - Zola wird sich mangels sozialem Fortschritt im Grab herum drehen...

Diese menschlichen Ameisen schließen abends entgegen ihren eigenen Interessen beruhigt die Fensterläden (vgl. Franquin´s genialen "Cartoon" zum Welt-Untergang in seinen "Schwarzen Gedanken"), wenn ökonomistische "Experten" die Regierung übernommen haben (wie in Italien, Griechenland, Frankreich, Deutschland usw.) und freuen sich, daß misanthropische Milliardäre aus ihren steuer-befreiten "Stiftungen" für angeblich humanistische Zwecke "spenden" (und in Wirklichkeit kassieren), während sie selbst ökonomisch immer tiefer absacken (die "Gates-Stiftung" ist wahrlich nicht das einzige Beispiel für profitablen Betrug mit solchem Pseudo-Humanismus - und Milliardär wird man natürlich sowieso nur auf Kosten anderer...).

Es gibt genug einleuchtende und verwirklichbare Modelle einer besseren Gesellschaft,  vom erwähnten "Recht auf Faulheit" und Morris´ "News from Nowhere" über Huxley´s "Island", Callenbach´s "Ecotopia", Zerzan´s "Future Primitive" und p.m.s "bolobolo" bis zu Flecks "Tahiti-Projekt", aber die von kapitalistischer Propaganda verseuchte Ameise traut sich nicht aus ihrem vermaledeiten Ameisen-Staat heraus, der nur für das Klein-Hirn von Ameisen gut genug ist, und nicht für die Depressions-anfällige Großhirn-Rinde eines "homo sapiens" !

"Aufklärung", "Demokratie", "Fortschritt" und "Informations-Gesellschaft" sind fake news...

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