20-Stunden-Woche
"Als die Ökotopianer die 20-Stunden-Woche einführten, stellten sie sich auf den Standpunkt, die Menschheit sei nicht zur industriellen Produktion nach protestantischer Arbeitsauffassung bestimmt, wie man im 19. und 20. Jahrhundert geglaubt hatte, sondern müsse ihre vorhandenen Ressourcen an Energie, Wissen, Können und Materialien entsprechend den grundlegenden Forderungen des Überlebens organisieren. Die Ökotopianer haben die moderne Technik gesichtet und den größten Teil davon als ökologisch schädlich verworfen. Unter dieser Voraussetzung könne sich sogar ein starker Abfall des Bruttosozialprodukts (das ihrer Meinung nach ohnehin zu großen Teilen aus überflüssiger Arbeit resultierte) als politisch nützlich erweisen.
Je besser man die ökotopianischen Arbeitsgewohnheiten kennt, umso mehr überrascht, daß ihr System überhaupt funktioniert.
Nicht nur, daß die 20-Stunden-Woche eingeführt worden ist - man kann darüber hinaus nicht einmal unterscheiden, wann ein Ökotopianer arbeitet und wann er Freizeit hat. Ich habe beobachtet, wie eine ganze Abteilung von einem Augenblick zum andern geschlossen die Arbeit niederlegte; jemand besorgt Bier oder Marihuana, und schon feiert man inmitten von Kisten und Maschinen eine Party.
Vielleicht betrachten sie den Betrieb als ihr Zuhause oder wenigstens als ihre Domäne, weil sie ja Mitbesitzer der Firma sind. Der gewöhnliche Ökotopianer fragt zuerst nach den Partnerschaftsbedingungen in einem Unternehmen, in das er einzutreten gedenkt; daher sind die Unternehmenskollektive um die Verhältnisse am Arbeitsplatz ebenso besorgt, wie um ihre Profite, und in vielen Fällen nehmen die Belegschaftsmitglieder niedrigere Löhne und Profite in Kauf, wenn dadurch ein angenehmeres Arbeitstempo und Arbeitsklima verwirklicht werden können. Aus dem selben Grund bleiben die Unternehmen eher klein.
Da es keine großen Lohn- und Gehaltsunterschide gibt, werden lediglich die Unternehmensgewinne der Produktionskollektive und der Handwerker besteuert. Überschüsse können nicht anders verwendet werden, als gegen Zinsen bei der lokalen Bank, die Kredite an andere Unternehmensgründer vergibt, deponiert zu werden.
Die geringste Änderung der Arbeitspläne eines Unternehmens gibt Anlaß zu einer langen und breiten Gruppendiskussion und die ursprünglichen Pläne werden selten ohne Änderung akzeptiert. Die (gewählten) Abteilungsleiter behaupten sogar, daß die Arbeiter oft bessere Vorschläge machen, als sie selbst; außerdem glauben sie, daß die Arbeitsleistung pro Kopf und Stunde in Ökotopia besonders hoch ist.
Jedenfalls gehen die Ökotopianer mit ihrer Zeit doch erstaunlich großzügig um: z.B. machen viele Arbeiter Überstunden, um defekte Maschinen zu reparieren - andererseits kann jemand auf der Straße nach einer zwanglosen, in aller Ruhe geführten Unterhaltung nach zehn Minuten plötzlich sagen, er sei mitten in der Arbeit, und sich auf dem Absatz umdrehen.
Das Ergebnis scheint nun zu sein, daß die Unternehmen keinen ernsten Mangel an Teilhaber-Arbeitern haben (unglaublich, aber wahr - die Ökotopianer haben Spaß an ihrer Arbeit), und es zugleich keine nennenswerte Zahl von unfreiwillig Arbeitslosen gibt. Angesichts eines garantierten Mindesteinkommens und des Systems der Grundbedarfsläden wird zeitweilige Arbeitslosigkeit nicht mehr als Katastrophe oder Bedrohung betrachtet, sondern manchmal sogar bewußt ausgedehnt, um sich zu bilden, zu werkeln, sich künstlerisch zu betätigen oder nachzudenken."
(Ernest Callenbach, 1975)
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