Donnerstag, 3. November 2016

"Expressionismus" macht schlechte Laune: E. L. Kirchners "Hieroglyphen" im "Hamburger Bahnhof" in Berlin

Schlecht gelaunt könnte man spontan sagen: gezeigt werden einige "in unmittelbarer Ekstase" (Kirchner) hingehauene "Hieroglyphen" (Kirchner) aus der (natürlich!) "Vielfalt im Schaffen dieses Künstlers" (Flyer), samt Beispielen aus dem "formal so dicht angelegten Spätwerk" (Flyer) mit so zeitlos wichtigen Sujets wie "Wiesenblume und Katze", begleitet von Skizzenblättern und unscharfen Laien-Photographien, allerdings vom "Meister" höchstpersönlich geknipst, und zeitgenössischen Druckerzeugnissen, die Kirchner gekannt haben könnte - dazu (wie üblich) bedeutungs-schwangere Exegese...
Angesichts der primitivistischen Gemälde kann man sich gut vorstellen, daß Kirchner und seine Konsorten von der "Brücke" und verwandten internationalen Frühschoppen-Runden, gelangweilt sowohl vom klassisch-akademischen Historismus, als auch vom oberflächlichen Licht-Naturalismus der "Impressionisten", endlich mal frei von Realität, Botschaft und Pingelei "ekstatisch" hinlangen wollten - das durften sie (und darf noch heute jeder) meinetwegen natürlich tun, aber wie konnten die rein subjektiven "Expressionen" einiger Bohémes mit "Fin-de-Siecle-Ennui" zu Ikonen der "kunstwissenschaftlich" kanonisierten "modernen Kunst" werden? Und was soll eine "Wissenschaft" von der "Kunst" überhaupt anderes sein, als eine affirmative Theorie des existierenden "Marktes", entsprechend der sogenannten "Wissenschaft" von der herrschenden Wirtschaftsweise?
Schlecht gelaunt könnte man sagen, daß es von Kirchner und seinen Brüdern im Geiste ganz schön mutig war, mit ihren naiven selbst-therapeutischen Versuchen an die Öffentlichkeit zu treten - dazu gehören z.B. Paul Klees neurotisch-metaphysische Kindergarten-Strichzeichnungen, Emil Noldes großfleckige Aquarelle und grell-falsche "Südsee"-Bilder (als wären nicht schon die des syphilitischen Gaugin albern genug gewesen), Picasssos leblose "Demoiselles d´Avignon" (die der "Kunst"-Napoleon angeblich in einem langen "Ent"-Wurfsprozeß von jedem inhaltlichen Zusammenhang "befreit" hat) oder Malewitschs bombastisch theoretisierte Banalitäten...
Wenn der "Kunst"-Papst der 50er-Jahre, Werner Haftmann, recht hat, daß es "mancherlei schwierige weltanschauliche und oft scheinbar ganz abgelegene Denkprozesse (sind), mit deren Hilfe der Künstler die geistigen Bedingungen in sich herstellt, unter denen er eine bestimmte spontane Handlung überhaupt erst vollziehen kann"*, kann man sich trotz aller ins "Originäre" und "Absolute" lappenden Exegese solcher "Kunst" offenbar tatsächlich nur über die "Pathologie" ihrer Protagonisten annähern und ist damit in gefährlicher Nähe zur Nazi-Diffamierung von "entarteter Kunst" - aber vielleicht wird umgekehrt ein Schuh daraus: es gibt schon länger die These, daß uns die ganze Bedeutungsleere von "Expressionismus", "Suprematismus", "Futurismus", "Kubismus" und all ihren Nachfolgern möglicherweise erspart geblieben wäre, wenn es nicht "entnazifizierte" Wirtschaftswunder-Bürger für ihre genuine Pflicht gehalten hätten (und noch halten), alles von den Nazis (und auch von ihrer biederen "Volksgemeinschaft") für "entartet" Erklärte im Nachhinein zum Beweis ihrer "Entnazifizierung" als "wahre Kunst" zu betrachten, obwohl sie es genausowenig "verstehen", wie während des "3. Reichs" oder davor - jedenfalls nachdem ein "entnazifiziertes" Establishment von "Kunst-Wissenschaftlern", "-Kritikern" und -Händlern ihnen das verordnet hatte: daher in den 50er-Jahren die "modernen" Phrasendresch-Anleitungen in Zeitschriften für einen bequem apolitischen und ahistorischen "Kunst"-beflissenen Möchtegern-Mittelstand á la Tatis "Mon Oncle": es ist derselbe "Entnazifizierungs"-Kanon, der bis heute dem "politisch-korrekten" Bürger Kritik an der faschistoiden Politik der israelischen Regierung verbietet, als könne das die fatale Vernichtung jüdischer Wissenschafts- und Kultur-Intelligenz (oder ihre Vertreibung aus Deutschland) wettmachen...

Bezeichnenderweise ist Kirchner, wie viele seiner spintisierenden "Kunst"-Kollegen jedweder Nationalität, trotz aller metaphysischen Welt- und "Kunst"-Theorien freiwillig in den 1. Weltkrieg gezogen, und bezeichnenderweise blieb seine und seiner Kollegen Reaktion auf diese Menschheits-Tragödie seltsam unaufgeregt und vage-symbolisch: der affirmativen "Kunst-Wissenschaft" und "-Kritik" blieb (und bleibt) nichts anderes übrig, als Kirchners unterkühlte Amputations-Andeutung im "Selbstportrait als Soldat" und Max Ernsts trübseliges "Europa nach dem Regen" als radikalen Antimilitarismus zu deuten, und Klees neckischen "Aufstand der Viadukte" zum anti-nazistischen Manifest zu erheben...
Ganz zu schweigen von Picassos sakrosanktem "Guernica": wieso sollte ich in die globalen Lobeshymnen über diese Picasso-typische Verfremdungs-Stilübung einstimmen? Die einzige "Sensation" (als die es damals bezeichnet wurde und bis heute wird) daran ist, daß der große "Meister" sich damit (1937) erst- und letztmals überhaupt mit einem gesellschaftlich-politisch relevanten Thema befaßt hat - und zwar auf eine Weise, die sich ein unbekannter "Künstler" nicht hätte erlauben können: mich jedenfalls berührt dieser an sich begrüßenswerte thematische Ausrutscher Picassos ästhetisch und moralisch nicht, denn die vielbeschworene "gequälte, leidende Kreatur" sehe ich bereits in den deformierten "Demoiselles" und in Kirchners neolithischen "Badenden" bis zum Überdruß, ganz zu schweigen von allen folgenden post- und para-"expressionistischen" Abstraktionen, in denen auch die Gegenstände gequält werden und leiden müssen.**
Nach dem 1. Weltkrieg hatte es noch ein paar nicht zu ignorierende Dissidenten gegeben, die eine Art Botschaft hatten, wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz, aber als die Künstler nach dem 2. Weltkrieg vor der Realität vollends ins Abstrakte und Informelle flüchteten, befand der genannte Haftmann allen Ernstes: "Diese Unbeirrbarkeit des Glaubens an die höhere Notwendigkeit des eigenen Tuns und die daraus sich herleitende Souveränität gegenüber den entsetzlichen Aspekten der Vordergrundswirklichkeit (...) ist einer der schönsten Beweise für die Lebenskraft der in der modernen Kunst wirkenden Idee"* - also offenbar ihre pure Selbstbezogenheit...
Es fragt sich allerdings, was eine "Kunst" ohne mehr als rein subjektiven Inhalt (oder sogar ganz ohne Gegenstand und Inhalt) sein oder sagen will oder soll: als Manifest kulturellen Unbehagens oder einer Sinnkrise (selbst wenn es sich um eine gesellschaftliche, und nicht bloß individuelle, handelt) hat sie sich mit ihrem ersten Fanal überlebt, und wenn sie untot weiterlebt, "erhebt" sie sich nicht über den schnöden "Naturalismus", sondern oszilliert nur willkürlich zwischen "dekorativ", nichtssagend und gewollt "anti-ästhetisch": Kirchners großpinseliger Ausschnitt aus "Liebermanns Garten" eignet sich bestenfalls  als nerviges Tapeten-Muster für eine schrille Bar, und seine spitz-zitzig "hieroglyphisierten" naiven "Badenden am Strand" (das Ausstellungs-Plakat) nichtmal dazu: da mußte erst der Graffity-Vermarkter Keith Haring mit seinen goldigeren und dekorativeren Strichmännchen kommen.
Eine "neue Wahrnehmung", wie die affirmativen "Kunst"-Exegeten dem gläubig staunenden Publikum euphemistisch als Folge des post-"impressionistischen" Experimentierens einreden wollen, hat höchstens der geniale Nicht-"Künstler" M. C. Escher erzeugt, und wer Escher als "bloß graphischen" Handwerker abqualifiziert, hat nicht gemerkt, daß die "moderne Kunst" seit dem Beginn des 20. Jh.s (oder sogar schon seit den "Impressionisten" und ihrem Vorläufer Turner) auf nichts weiter als Methoden (und damit Moden) reduziert ist, die lediglich unabhängig (bzw. "befreit") von Inhalten unablässig zyklisch "neu" erfunden  und nebulös mit "neuer" Bedeutung versehen werden: denn was wollen uns all die von gesellschaftlichen Zusammenhängen losgelösten Bilder, die verfremdeten Portraits, stilisierten Figuren, viereckigen Früchte, schiefen Weingläser, unscharfen Blumen und geknickten Gitarren, mehr sagen, als: "Oh, ich habe eine neue Methode erfunden - schaut mal, so kann man das auch mal malen!"
Der "impressionistische" Individualismus wurde witzigerweise von den "Expressionisten" erst zu einem regelrechten theoretischen Solipsismus aufgebauscht, nachdem sie sich einerseits für die naiven sonntagsmalerischen Kolonial-Sammelbildchen-Kopien des braven Zöllners Rousseau, und andererseits für sozial-mythische "Neger-Plastiken" und animistische Masken von Naturvölkern begeistert hatten: kein Wunder, daß viele "expressionistische" Ergüsse (und die ihrer Nachfolger) wie Kopien indigener Kunst daher kommen - nichts dagegen zu sagen, sofern sie nicht als "originäre" Gurus gefeiert werden, denn wie schon Jean-Luc Godard die "Originalitäts"-geile "Kunst"-Welt beruhigte, kommt es nicht darauf an, wo man etwas her klaut, sondern wo man es hin führt - die leicht mit Aborigines-Zeichnungen zu verwechselnden Krakeleien eines Kirchner, Klee, Miró, Pollock oder Penck haben in diesem Sinn allerdings offenbar nirgendwohin geführt: der feuilletonistische Kult um die "historischen Meilensteine der Kunst-Erneuerung" ist genauso ein Quatsch, wie Baselitzens komischerweise gelungener Scherz-Versuch, den "Kunstmarkt" durch kopfüber aufgehängte Bilder anzuheizen, oder Beuysens esoterisch verquaste "natürliche" Müllhaufen...
Der sogenannte "Fälscher" Beltracci hat nachgewiesen, daß man mit etwas handwerklichem Geschick nach den Methoden gefeierter Ikonen der "Moderne" Bilder malen kann, die von der "Kunst-Wissenschaft" bereitwillig als "bisher unbekannte" Werke der jeweiligen "Meister" anerkannt wurden - in den Knast mußte er in erster Linie, weil er den absurden Ikonen-Handel des "Kunst"-Markts mitsamt der hohlen Ehrfurchtsbekundungen und kosmischen Hineindeutungen der "Kunst-Wissenschaft" bloßgestellt hat...

Mit all dem Schlechtgelaunten soll nicht gesagt sein, daß es jen- oder abseits von Michelangelo, Constable, Cezanne, van Gogh, Mucha, Larsson, Rockwell, Hopper und Sowa nichts mehr geben kann - im Gegenteil: man schaue sich z.B. den genialen dänisch-isländischen Schriftsteller, Regisseur, Graphiker und Maler Jakob Gislason an, in Berlin zuletzt 2014 mit der grandiosen expressiv-surrealistischen Ausstellung "Die Peristaltik des Transports", oder die Berliner Künstlerin Jorinde Voigt mit ihren außergewöhnlichen "Horizont"-Konzepten und andern Wahrnehmungs-Experimenten, oder den australischen Minimalisten Lee Salomone mit seinen starken Symbolismen - weder Ornament, noch Naturalismus, Inhalt oder Botschaft sind ein "Verbrechen", wie es im Gefolge der selbsternannten "Avantgarde" im Establishment immer noch heißt.
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*  Haftmann-Zitate nach J. Nolte: "Kollaps der Moderne", 1989, Hervorh. von mir

**  Im Okt./Nov. 2016 zeigte das Simon Dach Projekttheater (Regie: P. Wittig) in Berlin M. Llorentes Stück "Nach Guernica. Die Stadt, das Ereignis, das Bild": im Gegensatz zur Aufführung eines Dresdner Ensembles wurde einem hier der Anblick von Picassos längst zum abstrakten Emblem geronnenen Bildes erspart, indem es nicht Bühnenhintergrund, sondern klugerweise ein leerer Rahmen in Richtung Publikum war, vor dem sich sowohl ein esoterisch-arroganter Picasso, als auch affirmative bis ratlose Betrachter abarbeiten konnten... Daß das verquere Riesenbild, obwohl nur eine Picasso-typische "Karikatur" und nicht wirklich publikumswirksam den faschistischen Terror anprangernd (es sei denn, man hat es mit der neoklassischen "Allgemeinbildung" eingebleut bekommen), nur eine inzwischen allgemein akzeptierte heuchlerische "Antikriegs"-Ikone ist, zeigt sich ja schon daran, daß die angesichts permanenter weltweiter Kriege machtlose UNO demonstrativ eine Wandteppich-Kopie des Bildes in ihrem Hauptquartier aufgehängt hat - daß (wie im Stück erwähnt) die US-Kriegstreiber gegen den Irak anläßlich der Verkündung ihrer Kriegsgrund-Lügen das dekorative Stück vorsichtshalber mit einer großen UN-Fahne zuhängten, war eigentlich überflüssige doppelte Heuchelei: man hätte genausogut eine Vergrößerung von Picassos ebenso berühmter chinapinseliger "Friedenstauben"-Skizze darüber drapieren können, oder besser noch einen Warhol-Siebdruck von Dollar-Noten-Kopien...

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