Samstag, 26. September 2009

20-Stunden-Woche

"Als die Ökotopianer die 20-Stunden-Woche einführten, stellten sie sich auf den Standpunkt, die Menschheit sei nicht zur industriellen Produktion nach protestantischer Arbeitsauffassung bestimmt, wie man im 19. und 20. Jahrhundert geglaubt hatte, sondern müsse ihre vorhandenen Ressourcen an Energie, Wissen, Können und Materialien entsprechend den grundlegenden Forderungen des Überlebens organisieren. Die Ökotopianer haben die moderne Technik gesichtet und den größten Teil davon als ökologisch schädlich verworfen. Unter dieser Voraussetzung könne sich sogar ein starker Abfall des Bruttosozialprodukts (das ihrer Meinung nach ohnehin zu großen Teilen aus überflüssiger Arbeit resultierte) als politisch nützlich erweisen.
Je besser man die ökotopianischen Arbeitsgewohnheiten kennt, umso mehr überrascht, daß ihr System überhaupt funktioniert.
Nicht nur, daß die 20-Stunden-Woche eingeführt worden ist - man kann darüber hinaus nicht einmal unterscheiden, wann ein Ökotopianer arbeitet und wann er Freizeit hat. Ich habe beobachtet, wie eine ganze Abteilung von einem Augenblick zum andern geschlossen die Arbeit niederlegte; jemand besorgt Bier oder Marihuana, und schon feiert man inmitten von Kisten und Maschinen eine Party.
Vielleicht betrachten sie den Betrieb als ihr Zuhause oder wenigstens als ihre Domäne, weil sie ja Mitbesitzer der Firma sind. Der gewöhnliche Ökotopianer fragt zuerst nach den Partnerschaftsbedingungen in einem Unternehmen, in das er einzutreten gedenkt; daher sind die Unternehmenskollektive um die Verhältnisse am Arbeitsplatz ebenso besorgt, wie um ihre Profite, und in vielen Fällen nehmen die Belegschaftsmitglieder niedrigere Löhne und Profite in Kauf, wenn dadurch ein angenehmeres Arbeitstempo und Arbeitsklima verwirklicht werden können. Aus dem selben Grund bleiben die Unternehmen eher klein.
Da es keine großen Lohn- und Gehaltsunterschide gibt, werden lediglich die Unternehmensgewinne der Produktionskollektive und der Handwerker besteuert. Überschüsse können nicht anders verwendet werden, als gegen Zinsen bei der lokalen Bank, die Kredite an andere Unternehmensgründer vergibt, deponiert zu werden.
Die geringste Änderung der Arbeitspläne eines Unternehmens gibt Anlaß zu einer langen und breiten Gruppendiskussion und die ursprünglichen Pläne werden selten ohne Änderung akzeptiert. Die (gewählten) Abteilungsleiter behaupten sogar, daß die Arbeiter oft bessere Vorschläge machen, als sie selbst; außerdem glauben sie, daß die Arbeitsleistung pro Kopf und Stunde in Ökotopia besonders hoch ist.
Jedenfalls gehen die Ökotopianer mit ihrer Zeit doch erstaunlich großzügig um: z.B. machen viele Arbeiter Überstunden, um defekte Maschinen zu reparieren - andererseits kann jemand auf der Straße nach einer zwanglosen, in aller Ruhe geführten Unterhaltung nach zehn Minuten plötzlich sagen, er sei mitten in der Arbeit, und sich auf dem Absatz umdrehen.
Das Ergebnis scheint nun zu sein, daß die Unternehmen keinen ernsten Mangel an Teilhaber-Arbeitern haben (unglaublich, aber wahr - die Ökotopianer haben Spaß an ihrer Arbeit), und es zugleich keine nennenswerte Zahl von unfreiwillig Arbeitslosen gibt. Angesichts eines garantierten Mindesteinkommens und des Systems der Grundbedarfsläden wird zeitweilige Arbeitslosigkeit nicht mehr als Katastrophe oder Bedrohung betrachtet, sondern manchmal sogar bewußt ausgedehnt, um sich zu bilden, zu werkeln, sich künstlerisch zu betätigen oder nachzudenken."
(Ernest Callenbach, 1975)

Donnerstag, 24. September 2009

Elend durch "Fortschritt"

"Überall sinken die Massen der Arbeiterklasse (und der Arbeitslosen) tiefer, in dem selben Verhältnis wenigstens, wie die Klassen über ihnen in der gesellschaftlichen (und wirtschaftlichen) Waagschale aufschnellten. Und so ist es jetzt in allen Ländern Europas eine Wahrheit, dass keine Entwicklung der Maschinerie, keine chemische Entdeckung, keine Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion, keine Verbesserung der Kommunikationsmittel, keine Eröffnung von neuen Märkten, kein Freihandel, noch alle diese Dinge zusammengenommen das Elend der arbeitenden Massen beseitigen können, sondern dass vielmehr umgekehrt, auf der gegenwärtigen falschen Grundlage, jede frische Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit dahin streben muss, die sozialen Kontraste zu vertiefen und den sozialen Gegensatz zuzuspitzen."
(Gründungsmanifest der 1. Internationale, London 1864)


"Der Menschheit verwunderliche Idiotie:
Die gewaltige Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik hat im Verlauf des 19. Jh.s die Fähigkeit des Menschen mehr als verzehnfacht herzustellen, was er benötigt. Nichtsdestoweniger lebt die Masse der Menschen immer noch das gleiche kümmerliche Leben von der Hand in den Mund, in unaufhörlicher Sorge von Tag zu Tag. Millionen unter ihnen leiden immer noch beständig Not.
Wenn Menschen vor Jahrhunderten von ihrer Arbeit einigermaßen leben konnten, und nun ihre Produktivkraft verzehnfacht haben, warum in aller Welt nützt da kein einziger Mensch diese verzehnfachte Fähigkeit, wenigstens im Überfluß zu produzieren, was er braucht, um sich eine ökonomisch sorgenfreie Existenz zu sichern?
Daß nicht jeder Mensch zu jeder Zeit alles für seinen Alltag zur Verfügung hat, ist umso törichter, als jeder mit ein wenig Nachdenken folgendes begreifen wird: Es kostet nicht halb soviel Arbeit, wie es jetzt kostet, nur ein einziges Individuum reich und den Rest der Menschheit zu einer Ansammlung bedauernswerter Teufel zu machen, die ihr ganzes Leben durch ökonomische Sorgen vergiften.
Wenn alles, was die Menschen verbrauchen, überall und zu jeder Zeit überreichlich zur Verfügung stünde, verschwänden Handel und Kaufmannschaft, Geldwesen und Rechnungsführung, Bank-, Börsen- und Geldgeschäfte. Die enorme Arbeit von Millionen Menschen würde eingespart.
Wenn jeder alles, was er braucht, zur Verfügung hat, hat das Eigentumsrecht an dem, was ich selbst nicht brauche, keinen Sinn mehr. Das Rechtswesen kann sich darauf beschränken, das allgemeine Eigentumsrecht zu beschützen, und die Arbeit von Millionen Richtern, Gerichts- und Gefängnisangestellten und Polizisten kann eingespart werden werden.
Ferner gibt es keinen Streit mehr zwischen den ökonomischen Interessen der Länder: all die Millionen Soldaten können folglich die Waffen niederlegen und die Uniformen wegwerfen. Und der gewaltige Arbeiterstamm, der Kriegsmaterial fabriziert, kann ebenfalls die Arbeit niederlegen und hat nun die Hände frei.
Die Regierungen könnten ihre Handels-, Justiz- und Kriegsministerien schließen - wieder Millionen, deren Arbeit überflüssig wird.
Und wenn die Produktion nicht mehr von den Kapitalisten geleitet wird, um Geld zu verdienen, sondern von der Bevölkerung selbst ausgeführt wird mit dem einzigen Ziel vor Augen, beizuschaffen, was sie braucht, um es allen zur Verfügung zu stellen, dann fängt man einfach an mit den Leuten, die meinen, daß sie jenes benötigen. Die Bevölkerung wird dann allgemeinnützige Arbeiten ohne irgendwelchen Geldblödsinn, Anträge an die Regierung oder Erklärungen von Sachverständigen ausführen, in Gebrauch nehmen und administrieren.
Danach können sich die Regierung und die Nationalversammlung ruhig selber auflösen und auseinandergehen.
Und doch, all diese wahnwitzig vielen Millionen, deren Arbeitskraft jetzt vergeudet wird für unproduktive Arbeit, repräsentieren immer noch alle zusammen nicht einmal die Hälfte der Arbeitskraft, die im ganzen eingespart würde, wenn die Menschen endlich zur Vernunft kämen und aufhörten, Produktion zum Zweck des Geldverdienens zu betreiben, sondern herstellen würden, was jeder einzelne Mensch tagtäglich braucht (und zwar mit einem Bruchteil der derzeitigen Arbeitszeit pro Person)."
(Hans Jaeger, Oslo 1906)