Montag, 21. August 2017

Wer, außer einem Untertanen, braucht schon eine "Nation" oder "nationale Werte" ?

Antwort auf Prof.(em.) D. Borchmeyer: Vom wahren und falschen "Deutschsein" in: "Tagesspiegel", Berlin, 20.8.2017 (siehe  https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/was-ist-deutsch/vom-wahren-und-falschen-deutsch-sein.html)

Borchmeyers Behauptung, "englisch, französisch, italienisch" usw. hätten sich auf  "Stämme" (und erst später auf ihre Sprachen) bezogen, "deutsch" dagegen ursprünglich auf eine "Sprachidee", entspringt wohl der romantischen Vorstellung eines Literaturwissenschaftlers:
 - was man seit bald 1000 Jahren als "englisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt, ist eine Mischung aus Menschen und Dialekten sich bekämpfender Trupps von Angeln, Sachsen und Dänen, die als Invasoren die britischen Kelten vertrieben oder absorbiert haben, und den franko-romanischen Elementen der folgenden normannischen Eroberer...
 - was man als "französisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt, ist das Resultat der fränkischen Kolonisierung von Bretonen, Okzitaniern, Basken, Provenzalen, Burgundern usw. und der inneren Kolonisation durch Zentralisierung von Staat, Kultur und seit Cäsars "Gallischem Krieg" verballhorntem Latein...
 - was man als "italienisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt, basiert auf den Überresten des Römischen Reichs, d. h. auf der Kolonisierung und Assimilierung der italischen Stämme, der Etrusker, der süditalienischen Griechen, der Sarden, der cis-alpinen Kelten usw. durch die Latiner, abgesehen von der multiethnischen und -kulturellen Vermischung zur Zeit des Groß-Imperiums, und davon, daß Italien, wie "Deutschland", erst im 19. Jh. wieder eine "staatliche Einheit" wurde...
 - das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" war dagegen ein politisches Konstrukt aus mehr oder weniger autonomen nieder- und mittel-"deutschen", alemannisch- und austro-ober-"deutschen", friesischen, flämischen, luxemburgischen, burgundischen, provenzalischen, italienischen und slawischen "Herrschaften", in dem zuerst Latein und später zeitweise französisch die "Hochsprache" war, während die "Stämme" ihre Sprachen und Dialekte beibehielten - bis weit ins 20.Jh. hatten die Bewohner des "Deutschen Reichs" kulturell und sprachlich mit ihren jeweiligen Nachbarn jenseits der Grenze mehr gemeinsam, als mit den "Deutschen" am andern Ende des "Reichs": daher später vernünftigerweise wenigstens die föderale Bundesrepublik...
Das ewige Jammern über die "verspätete staatliche Einheit" ist rein macht-historisch affirmativ: natürlich wurde ein Territorium voller Klein- und Kleinst-"Herrschaften" in der Mitte zwischen imperialistisch-zentralistischen "National"-Staaten (Frankreich, England, Schweden, Rußland, aber auch Österreich und Preußen) zu deren "Spielball" und "Beuteobjekt" - aber mußte man es deshalb denen nachmachen, wie es erst die Habsburger und dann die Hohenzollern versucht haben? Die "Eidgenossen" haben eine bessere Lösung gefunden (auch wenn sie als "Neutrale" bald zur weltgrößten Söldner-Verleih-Agentur wurden...) und wurden eine bis heute im Prinzip funktionierende Bundesgenossenschaft verschiedener kulturell autonomer Stämme und Sprachgruppen - natürlich belächelt von "Rationalisierern" jeder Art.

"Deutschland" hat es nie gegeben, nichtmal als ideellen föderalen Bund, wie bei den "Eidgenossen": das hat gerade der 30-jährige Krieg mit seinen ständig wechselnden Allianzen gezeigt - es ist (wie das zusammengeheiratete Habsburger-"Reich") ein künstliches Produkt, nämlich das des wilhelminisch-preußischen Großmachtstrebens, und der Himmel mag wissen, was das "Volk" sich dabei gedacht hat, "staatliche Einheit" zu fordern: es ist mit dem "Deutschen Reich" genauso vom Regen in die Traufe gekommen, wie nach den sogen. "Befreiungskriegen" gegen Napoleon (und wie das französische "Volk" mit der "Französischen Revolution"...).
Wäre man den "humanistisch-weltbürgerlichen Ideen" von Goethe, Schiller und Konsorten gefolgt, hätte man jedenfalls wahrscheinlich der Welt zwei Weltkriege erspart: daß man es nicht tat, zeigt, daß der klassische Idealismus nicht identisch mit dem "deutschen Wesen" ist...
Die "Deutschen" samt ihren Intellektuellen, Dichtern und Künstlern haben es nicht geschafft, statt "zur Nation (sich vergebens) zu bilden, (...) dafür freier als Menschen (sich) aus(zubilden)", wie Schiller verlangte, sondern bloß zum preußischen Untertanengeist, bis auch die Intellektuellen, Dichter und Künstler der chauvinistischen Propaganda folgend begeistert in den ersten Weltkrieg gerannt sind - und selbst aus diesem grausligen Abgrund sind die Überlebenden nicht klüger aufgetaucht: in "späten", wie in "frühen" Nationalstaaten hat offenbar die vielgepriesene "staatliche Einheit" nicht zu "freieren" (d.h. im Schillerschen Sinn: menschlicheren) Menschen geführt, sondern im Grund zu permanentem Krieg.
Angesichts des auch in allen den imperialistischen "Reichen" nachfolgenden "staatlichen Einheiten" mangelnden klassisch-humanistischen Idealismus und Kosmopolitismus (siehe Re-Feudalisierung, Überwachung, Tot-Exportieren, post-koloniale Rohstoff-Kriege, Umweltzerstörung usw.) ist es vielleicht nur ehrlich, wenn sich der militärisch-industriell-finanzielle Komplex und seine derzeitig hiesigen "politischen" Statthalter nicht mehr auf das "Erbe" der ehemals in "deutschen" Landen verstreuten Dichter und Denker berufen...
Das Gute daran ist, daß so die klassischen Ideale nicht mißbraucht und diskreditiert werden (wie es z.B. dem anti-nationalistischen Nietzsche durch die Nazis geschah), sondern der radikal-humanistischen Opposition erhalten bleiben (die natürlich nicht nur rein "westliche", geschweigedenn "deutsche" Werte verkörpert).
Die Integration von syrischen oder afghanischen Flüchtlingen (wenn man schon die global-kapitalistischen Flucht-Ursachen nicht bekämpfen will) wird das wohl kaum beeinträchtigen, wie Borchmeyer befürchtet - im Gegenteil: erstens sind sie ja (wie gläubige und scheinheilige Christen oder Juden) gewöhnt, daß ihre (wie das Christen- und Judentum) teils ehrenwerte Religion sowohl für einen anständigen Lebenswandel, als auch für macht-besessene Barbareien herhalten kann, und zweitens sind sie aus post-kolonialistisch extrem neo-nationalistischen Staaten geflohen und suchen bestimmt nicht das gleiche in NATO-blau oder nach Goethes Farbenlehre...
Der Mensch, ob Eingeborener, Immigrant oder Asylant, muß sich mit der (lokalen) Gemeinschaft identifizieren, nicht mit einem abstrakten Gebilde namens "Nation", dann wäre es auch nicht nötig, z.B. angesichts "deutscher" Kolonial- und Kriegverbrechen zu betonen: "Aber immerhin hatten wir Göte !", sondern es hätte diese Verbrechen wahrscheinlich nie gegeben.

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