Antwort auf Prof.(em.) D. Borchmeyer: Vom wahren und falschen "Deutschsein" in: "Tagesspiegel", Berlin, 20.8.2017 (siehe https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/was-ist-deutsch/vom-wahren-und-falschen-deutsch-sein.html)
Borchmeyers
Behauptung, "englisch, französisch, italienisch" usw. hätten sich auf
"Stämme" (und erst später auf ihre Sprachen) bezogen, "deutsch" dagegen
ursprünglich auf eine "Sprachidee", entspringt wohl der romantischen
Vorstellung eines Literaturwissenschaftlers:
- was man seit
bald 1000 Jahren als "englisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt,
ist eine Mischung aus Menschen und Dialekten sich bekämpfender Trupps von
Angeln, Sachsen und Dänen, die als Invasoren die britischen Kelten
vertrieben oder absorbiert haben, und den franko-romanischen Elementen
der folgenden normannischen Eroberer...
- was man als
"französisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt, ist das Resultat
der fränkischen Kolonisierung von Bretonen, Okzitaniern, Basken,
Provenzalen, Burgundern usw. und der inneren Kolonisation durch
Zentralisierung von Staat, Kultur und seit Cäsars "Gallischem Krieg" verballhorntem Latein...
-
was man als "italienisch" (sowohl Volk, als auch Sprache) kennt,
basiert auf den Überresten des Römischen Reichs, d. h. auf der
Kolonisierung und Assimilierung der italischen Stämme, der Etrusker, der
süditalienischen Griechen, der Sarden, der cis-alpinen Kelten usw.
durch die Latiner, abgesehen von der multiethnischen und -kulturellen
Vermischung zur Zeit des Groß-Imperiums, und davon, daß Italien, wie
"Deutschland", erst im 19. Jh. wieder eine "staatliche Einheit" wurde...
-
das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" war dagegen ein
politisches Konstrukt aus mehr oder weniger autonomen nieder- und
mittel-"deutschen", alemannisch- und austro-ober-"deutschen",
friesischen, flämischen, luxemburgischen, burgundischen,
provenzalischen, italienischen und slawischen "Herrschaften", in dem
zuerst Latein und später zeitweise französisch die "Hochsprache" war,
während die "Stämme" ihre Sprachen und Dialekte beibehielten - bis weit
ins 20.Jh. hatten die Bewohner des "Deutschen Reichs" kulturell und
sprachlich mit ihren jeweiligen Nachbarn jenseits der Grenze mehr
gemeinsam, als mit den "Deutschen" am andern Ende des "Reichs": daher
später vernünftigerweise wenigstens die
föderale Bundesrepublik...
Das
ewige Jammern über die "verspätete staatliche Einheit" ist rein
macht-historisch affirmativ: natürlich wurde ein Territorium voller
Klein- und Kleinst-"Herrschaften" in der Mitte zwischen imperialistisch-
zentralistischen
"National"-Staaten (Frankreich, England, Schweden, Rußland, aber auch
Österreich und Preußen) zu deren "Spielball" und "Beuteobjekt" - aber
mußte man es deshalb denen nachmachen, wie es erst die Habsburger und
dann die Hohenzollern versucht haben? Die "Eidgenossen" haben eine
bessere Lösung gefunden (auch wenn sie als "Neutrale" bald zur
weltgrößten Söldner-Verleih-Agentur wurden...) und wurden eine bis heute
im Prinzip funktionierende Bundesgenossenschaft verschiedener kulturell autonomer Stämme und Sprachgruppen - natürlich belächelt von "Rationalisierern" jeder Art.
"Deutschland" hat es nie gegeben, nichtmal als ideellen föderalen Bund, wie bei den "Eidgenossen": das hat
gerade der
30-jährige Krieg mit seinen ständig wechselnden Allianzen gezeigt - es
ist (wie das zusammengeheiratete Habsburger-"Reich") ein künstliches
Produkt, nämlich das des wilhelminisch-preußischen Großmachtstrebens,
und der Himmel mag wissen, was das "Volk" sich dabei gedacht hat,
"staatliche Einheit" zu fordern: es ist mit dem "Deutschen Reich"
genauso vom Regen in die Traufe gekommen, wie nach den sogen.
"Befreiungskriegen" gegen Napoleon (und wie das französische "Volk" mit
der "Französischen Revolution"...).
Wäre
man den "humanistisch-weltbürgerlichen Ideen" von Goethe, Schiller und
Konsorten gefolgt, hätte man jedenfalls wahrscheinlich der Welt zwei
Weltkriege erspart: daß man es nicht tat, zeigt, daß der klassische Idealismus nicht identisch mit dem "deutschen Wesen" ist...
Die "Deutschen" samt ihren
Intellektuellen, Dichtern und Künstlern haben es nicht geschafft, statt
"zur Nation (sich vergebens) zu bilden, (...) dafür freier als Menschen
(sich) aus(zubilden)", wie Schiller verlangte, sondern bloß zum
preußischen Untertanengeist, bis auch die Intellektuellen, Dichter und
Künstler der chauvinistischen Propaganda folgend begeistert in den
ersten Weltkrieg gerannt sind - und selbst aus diesem grausligen Abgrund
sind die Überlebenden nicht klüger aufgetaucht: in "späten", wie in
"frühen" Nationalstaaten hat offenbar die vielgepriesene "staatliche
Einheit" nicht zu "freieren" (d.h. im Schillerschen Sinn:
menschlicheren) Menschen geführt, sondern im Grund zu permanentem Krieg.
Angesichts
des auch in allen den imperialistischen "Reichen" nachfolgenden
"staatlichen Einheiten" mangelnden klassisch-humanistischen Idealismus
und Kosmopolitismus (siehe Re-Feudalisierung, Überwachung,
Tot-Exportieren, post-koloniale Rohstoff-Kriege, Umweltzerstörung usw.)
ist es vielleicht nur
ehrlich, wenn sich der militärisch-industriell-
finanzielle
Komplex und seine derzeitig hiesigen "politischen" Statthalter nicht
mehr auf das "Erbe" der ehemals in "deutschen" Landen verstreuten
Dichter und Denker berufen...
Das Gute daran ist, daß so die
klassischen Ideale nicht mißbraucht und diskreditiert werden (wie es
z.B. dem anti-nationalistischen Nietzsche durch die Nazis geschah),
sondern der radikal-humanistischen Opposition erhalten bleiben (die
natürlich nicht nur rein "westliche", geschweigedenn "deutsche" Werte
verkörpert).
Die Integration von syrischen oder afghanischen
Flüchtlingen (wenn man schon die global-kapitalistischen Flucht-Ursachen nicht bekämpfen will) wird das wohl kaum beeinträchtigen, wie Borchmeyer
befürchtet - im Gegenteil: erstens sind sie ja (wie gläubige und
scheinheilige Christen oder Juden) gewöhnt, daß ihre (wie das Christen-
und Judentum) teils ehrenwerte Religion sowohl für einen anständigen
Lebenswandel, als auch für macht-besessene Barbareien herhalten kann,
und zweitens sind sie aus post-kolonialistisch extrem
neo-nationalistischen Staaten geflohen und suchen bestimmt nicht das
gleiche in NATO-blau oder nach Goethes Farbenlehre...
Der Mensch, ob
Eingeborener, Immigrant oder Asylant, muß sich mit der (lokalen)
Gemeinschaft identifizieren, nicht mit einem abstrakten Gebilde namens
"Nation", dann wäre es auch nicht nötig, z.B. angesichts "deutscher"
Kolonial- und Kriegverbrechen zu betonen: "Aber immerhin hatten wir Göte
!", sondern es hätte diese Verbrechen wahrscheinlich nie gegeben.
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